Selbsthilfe – ein guter Gedanke
Selbsthilfe ist mir immer wie ein Paradoxon vorgekommen. Ich treffe mich mit
anderen Mitbetroffenen um mir selbst zu helfen. Auf Grundlage des erlittenen
Kontrollverlust, gebe ich die Kontrolle bewußt ab um sie genau daurch wieder
zu erlangen.
Die AA (anononymen Alkoholiker) haben 1935 die erste Selbsthilfegruppe in
Akron gegründet. Bill Wilson (William Griffith Wilson), ein New Yorker
Börsenmakler, selbst Alkoholiker, versuchte, unter zu Hilfenahme eines
Instrumentariums, welches er bei der Oxfortbewegung kennengelernt hatte,
Dr. Bob (Robert Holbrook Smith) einen lokal ansässiger Arzt, zur
Alkoholabstinenz zu bewegen. Das waren die Anfänge der AA. Heute eine
weltweite Bewegung, die mittlerweile nicht nur gegen Alkohol, sondern in
vielen anderen Bereichen, zur Anwendung kommt. Das 12-Schritte-
Programm, soll das erfolgreichste Gesundungsprogramm weltweit sein.
Ich nehme für mich in Anspruch, nach diesen Grundsätzen trocken geworden
zu sein. In den letzten 20 Jahren habe versucht, diese zwölf Schritte immer
wieder in meinem Leben wirksam werden zu lassen. Im Rückblick kann ich
feststellen, wo es mir nicht gelungen ist, ist auch mein Leben nicht gelungen.
Die Auffassung, dass Alkoholismus unbehandelt eine tödliche, chronische
Krankheit ist, macht die Ernsthaftigkeit deutlich. Es ist keine Spielerei!
Wir als Abhängigkeitserkrankte entwickeln uns im Krankheitsverlauf zu
Egoisten. Der Alkohol stand im Mittelpunkt und alles andere hatte sich ihm
unterzuordnen. Die Frau meines damaligen besten Freundes, hatte es mal an
einem Wochenende, an dem sie uns besuchten, treffend ausgedrückt. Meine
Krankheit steckte noch in den Kinderschuhen, doch waren meine veränderten
Wesenszüge schon zu erkennen. Sie sagte mir ganz ruhig: „Was bist du doch
für ein egoistisches, rechthaberisches Arschloch!?“ An diesem Abend
berührte es mich kaum, natürlich verteidigte ich mich bis aufs Messer aber es
bewog mich nicht eine Veränderung einzuleiten.
Selbsthilfe, richtig verstanden, bietet eine Heimat die Vertrauen schafft, in der
ich sein kann wie ich bin. Die ermutigt, dass ich meine Maske, die ich gerade
in den Anfängen der Trockenheit „draußen in der Welt“ noch brauche,
abzulegen. Ich darf mich ausprobieren. Ich darf ausprobieren, wie es sich
anfühlt sich ohne „Schutz“ der Maske, also praktisch nackt, zu bewegen. Das
Gefühl auszuhalten, sich angreifbar gemacht zu haben und es nutzt keiner
aus, sonder darin bestärkt zu werden nicht nur zu seiner Krankheit sondern
auch zu sich selbst zu stehen. Nur die eine Rolle zu spielen, sich selbst. Nicht
die, die die anderen gern hätten.
Ich darf nicht nur etwas sagen, sondern es ist ausdrücklich erwünscht sich
zum Thema zu äußern. Denn vielleicht ist jetzt in diesem Moment eine oder
einer im Meeting (so nennen die AA ihre Gruppentreffen) die/der sich gerade
von meinen Worten angesprochen fühlt und eine Entscheidung zur
Veränderung trifft. Ich bin davon überzeugt, dass kein Wort zum Thema,
vergeblich gesagt wurde und wird.
Wir dürfen aufgeben, kapitulieren, zugeben, dass wir unser Leben nicht mehr
im Griff haben.
Wer gibt schon gern zu, dass er sein Leben nicht mehr meistern kann und
dass er machtlos ist. Einem „normalen“, gesunden Menschen fällt es schon
schwer sich zu outen, nicht alles im Griff zu haben. Wie kann das bei einem
Menschen gelingen, der ein riesiges Lügengerüst um sein perfektes
Selbstbild aufbaut und daran fast zu Grunde geht, bevor er etwas ändert. Mal
ganz abgesehen davon, dass die Umwelt schon lange die Wahrheit sieht.
Doch der Alkoholiker und sein/e Co-Alkoholiker versuchen verzweifelt ein
„normales Bild“ nach Außen aufrecht zu erhalten. Ja genau, er muss erst fast
zu Grunde oder zu Grunde gehen. Ich bin für mich davon überzeugt, dass
noch kein abhängig trinkender Alkoholiker ohne handfeste Lebenskrise
trocken geworden ist. Ich denke, wenn ich mich nicht ernst nehme, auf mich
achte, Verantwortung für mich und meine Krankheit übernehme, für mich
sorge und einen „gesunden Egoismus“ entwickle, dann werde ich mir immer
wieder eine blutige Nase holen und mich in den Suchtstrukturen verlaufen.
Was meinen die erfahrenen, trockenen und nüchternen Alkoholiker damit,
wenn sie sagen lege dir einen „gesunden Egoismus“ zu?
Wenn du abends nach Hause kommst und mit deinen Stiefeln direkt ins
Wohnzimmer zum Fernsehsessel geht’s, um deine Frau mit den drei
berühmten Dingen zu beauftragen, Hauslatschen, Abendbrot und
Fernsehgerät einschalten, weil du sonst wieder anfängst zu saufen, dann
hast du es noch nicht verstanden. Wenn du aber jemandem gegenüber, um
dich nicht zu überfordern „nein“ sagst, wo du in deiner „nassen Zeit“ ja gesagt
hättest, dann ist das ein achtsamer Schritt in die richtige Richtung.
Wir können es nicht jedem recht machen und wir sind auch nicht auf dieser
Welt, um es jedem recht zu machen. Wenn wir diesen Spagat, es jedem recht
machen zu wollen versuchen, werden wir uns früher oder später die Knochen
brechen.
Stehen wir in der Mitte eines Kreises aus Menschen, dann werden wir immer
einige anschauen und einigen sind wir gezwungen den Rücken zu zeigen.
Nehme ich nun an, die Menschen die ich anschaue sind mir wohlgesonnen
und die Menschen denen ich den Rücken zeigen, kann ich nichts recht
machen, dann wird sich das spätestens dann ändern, wenn ich mich
umdrehe. Und dann wird es auch immer Menschen geben, die mir neutral
gegenüber eingestellt sind. Das sind dann die, die rechts und links von mir
stehen. Egal welche Position ich einnehme, ich werde immer bei den
Menschen anecken, die hinter mir stehen. Selbst wenn ich meine Einstellung
so verändere, mich also um 180 Grad drehe, dass die Menschen mir
wohlgesonnen sind denen ich eben noch meinen Rücken gezeigt habe,
sehen jetzt die Menschen meinen Rücken die mich eben noch angelächelt
haben. Es wird nicht gelingen!
Eines habe ich in den letzten 20 Jahren gelernt und für mich eine Weisheit
daraus abgeleitet.
„Jeden Vorteil erkaufe ich mir mit mindestens einem Nachteil oder in
jedem Nachteil steckt mindestens auch ein Vorteil!“
Das Schöne an den Selbsthilfegruppen ist, ich kann etwas nehmen ohne das
erwartet wird, dass ich etwas zurückgebe. Ich kann mich aus dem
Erfahrungsschatz der anderen, wie in einem Selbstbedienungsladen,
bedienen, ohne im gleichen Atemzug wieder etwas hineinzulegen.
„Die Gruppe ist wie ein Selbstbedienungsladen. Die Erfahrenen legen etwas
in die Regale und die Unerfahrenen können sich kostenfrei bedienen. Jeder
darf sich das nehmen, was auch auf ihn zugeschnitten ist.“
Dieses Bild ist für viele so angenehm, weil es nichts aufzwingt und nichts
überstülpt. Wir versuchen kein „du mußt“ zu verwenden, auch wollen wir nach
Möglichkeit keine Ratschläge geben, sondern trauen jedem Besucher zu,
sich selbst am besten zu kennen und dadurch zu wissen, was das Beste für
ihn ist. Selbsthilfe möchte einen geschützten Raum bieten, wo Vertrauen
herrscht und jeder das sagen kann, was er möchte. Ich kann Begebenheiten
besprechen, die mich beschweren und bei denen ich mich im Kreis drehe.
Ein Gruppenmitglied hat einmal den Spruch kreiert:
„Wenn mich länger als 24 Stunden etwas beschäftigt, besteht
Handlungsbedarf.“
Martin Luther hat einmal festgehalten:
"Du kannst nicht verhindern, dass die Vögel der Besorgnis über deinen
Kopf fliegen, aber du kannst verhindern, dass sie sich auf deinem
Kopf ein Nest bauen."
Immer wieder halten uns negative Gedanken in ihrem Bann, kreisen ständig
um unseren Kopf und versuchen uns zu lähmen. Das sind nicht nur Sorgen
und Probleme, sondern auch Ängste und Zweifel. Sie hindern uns daran, in
angemessener Art und Weise zu handeln und ruhig zu werden.
Also spätestens dann dürfen wir uns mitteilen und darüber reden. Es hat den
Vorteil, dass wir es uns von der Seele reden und sich der Druck dabei abbaut
und uns leichter wird. Irgendwann werden wir davon berichten, wie wir damit
umgegangen sind und somit anfangen auch etwas in die Regale zu legen.
Dadurch ist garantiert, dass die Regale nie leer werden.
Ich habe es immer als sehr angenehm empfunden, einfach drauf los
„plappern“ zu können und trotzdem verstanden zu werden. Ich brauche mich
für nichts rechtfertigen und nichts erklären. Jeder der Betroffenen in der
Runde weiß, wovon ich spreche und jede/r Co-Abhängige/r kann alles nach
vollziehen, wenn ein Angehörige/r ihren/seinen Lebensbericht oder Sorgen
vorträgt.
Ich kann auch über meine Ängste, Beziehungsprobleme oder Konflikte
sprechen, ohne mich schämen zu müssen. Wo in unserer Gesellschaft ist
das noch möglich? Wir werden doch alle nur noch an Superlativen gemessen
und müssen schneller, besser, schöner, sein um überhaupt eine gewisse
Akzeptanz zu erfahren. Unsere Zeit ist zu schnelllebig geworden, wo die
Menschen keinen richtigen Platz mehr haben. Auch wenn das Wort sehr
inflationär gebraucht wird, hat es doch in diesen zwei Gruppenstunden eine
große Bedeutung. Entschleunigung ist das Zauberwort. Sich dem ständigen
Zugriff und den Erwartungen entziehen.
Heute gehöre ich in der Regel zu denen, die die Regale befüllen, doch denke
ich in Dankbarkeit an die Zeit zurück, als ich mich einfach so, ohne zu fragen,
bedienen durfte. Auch ein Privileg, welches ich als Alkoholiker genießen darf.
Ich glaube nicht, dass ich mich als „normaler, gesunder“ Mensch in eine
Selbsthilfegruppe gesetzt und damit jedem gezeigt hätte, dass ich, Gerald
Erdmann, mit meinem Leben nicht zu recht komme. Auch eine große Freiheit,
jedem sagen zu können ich bin Alkoholiker und nehme für mich in Anspruch,
ein abstinentes Leben zu führen. Ohne dass ich versuche es zu
umschreiben. Und wenn ich ich sage, dass ich keinen Alkohol trinke, dann
tue ich das mit dem Anspruch auf Akzeptanz. Ich muss mich dafür nicht
rechtfertigen.
Das alles hat dazu geführt, dass
ich froh bin, ein Alkoholiker zu sein!