Das Familienmobilee der Abhängigkeiten
Dieses Bild des Mobilee’s verdeutlicht für mich mehr alles andere, wie Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit miteinander verknüpft und voneinander abhängig sind.
Stellen wir uns eine Familie vor, in der es eine/n Abhängigkeitserkrankte/n gibt und viele co-abhängige Familienmittglieder. In dieser Vorstellung sind die Rollen einmal klassisch verteilt. Der Vater ist der Abhängigkeitserkrankte und die verbleibenden Familienmitglieder sind die Co-Abhängigen. In einer umgekehrten Verteilung sind die Auswirkungen oftmals nicht so stark (meine Beobachtungen aus der Selbsthilfearbeit). Denn Frauen (in der Co-Abhängigenrolle) halten oftmals länger fest, gleichen länger und stärker aus und übernehmen gleichzeitig mehr Verantwortung. So bleibt das „heile“ Bild nach Außen länger erhalten. Diese Familienmitglieder sind alle durch die Familienbande mit einander verbunden und weiterhin durch die Fäden des Lebens mit Ihrer Umgebung. Ähnlich wie bei einem Mobilee reagieren sie mit- und aufeinander.
Ein Mensch der ins Wanken gebracht oder irritiert wird, versucht automatisch auszugleichen. Stehen zwei Menschen auf einem großen Trampolin und einer bewegt sich, versucht der andere diese auf ihn wirkende Bewegung auszugleichen damit er nicht zu Fall kommt. Ja wenn diese Störung öfter zu erwarten ist, wird sich der Gestörte schon vorher darauf einstellen und seine Sinne darauf ausrichten. Wenn diese Interaktion nicht nur unter zwei Menschen stattfindet sondern unter den vier oder fünf Mitgliedern einer Familie, wird es ungleich komplizierter.
Zurück zum Mobilee. Wenn sich in den Verknüpfungen und den familiären Verbandelungen des Familienmobilee’s eine Person bewegt, kommen alle in Bewegung. Das ist in einer ungestörten Familie schön und bereichernd. Jede Person trägt zum Gleichgewicht des Mobilee’s bei und erfährt gleichzeitig das Bewegung nichts Schlechtes ist, sondern eher Entwicklung und Fortschritt bedeutet. So wird der Zusammenhalt und die Verbindungen untereinander gestärkt.
Im Gegensatz dazu sieht es in einem gestörten Familienmobilee ganz anders aus. Die Bewegungen sind nicht harmonisch, folgen keiner Familienmelodie und somit keiner Entwicklung. Die Bewegungen gehen eher von einer Person aus. Dem der abhängigkeitserkrankt ist. Auch bei anderen psychischen Erkrankungen sieht das Familienmobilee ähnlich aus. Diese Bewegungen oder Störungen sind eher heftig. So heftig, dass der Erkrankte alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er steht im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit und Bemühungen. Bei ihm laufen die Fäden zusammen und das Wort „ab-HÄNGIG“ bekommt bezogen auf das Mobilee noch einmal eine ganz andere bildliche Bedeutung. Wenn die Familienmitglieder nun alle auf den Einen fokussiert sind und sie sich auf ihn mit all‘ ihren Sinnen ausrichten, ist eine gesunde Entwicklung bzw Weiterentwicklung nur bedingt möglich.
*Aus der Diplomarbeit von Ramona Römer im Studiengang Erziehungswissenschaften habe ich Folgendes entnommen.
Eine Person mit überwiegend internaler Kontrollüberzeugung geht davon aus, die eigenen Belange beeinflussen und nach seinen Vorstellungen gestalten zu können. Das bedeutet, von einem direkten Zusammenhang zwischen eigenem Bemühen und daraus resultierendem Erfolg überzeugt zu sein. Diese Überzeugung wird annahmsweise eher zu ‚Aktion’ führen. Externale Kontrollüberzeugung hingegen bedeutet, daß sich die Person tendenziell machtlos Einflüssen von außen ausgesetzt fühlt (Skala Machtlosigkeit). Außerdem kann es sein, daß sie Ereignisse, die ihrem Handeln folgen, als willkürlich durch Glück, Pech oder Zufall ausgelöst ansieht (Skala Fatalismus). Wird dieser Eindruck dominant, besteht die Gefahr der Resignation und daraus folgender Passivität oder bloßer ‚Reaktion’ auf die Umstände (vgl. Brickenkamp, 1997, S: 662 f.). Klinische Beobachtungen an EKAs (Erwachsene Kinder von Alkoholikern) zeigen eine hohe generalisierte externale Kontrollüberzeugung. Bedrohliche Erlebnisse sowie anhaltende streßerzeugende Lebenszusammenhänge während der Kindheit werden als verantwortlich für die Furcht vor unvorhersehbaren Ereignissen angesehen. Stark ausgeprägte externale Kontrollüberzeugung äußert sich in Symptomen des bereits beschriebenen PTSD, wie “übermäßiger Aufmerksamkeit” bzgl. der Geschehnisse außerhalb der eigenen Person oder innerer Unruhe, also Identitätstheoretische Reflexion des EKA-Phänomens 45 ständiger ‚Alarmbereitschaft’. Die ständige Anspannung kann zu Angstsymptomen führen. Seligmann (1979) fand außerdem ein erhöhtes Risiko zur Ausbildung von Depressionen (vgl. Haußer, 1983, S. 76). Gleichzeitig kann der Versuch, die antizipierten Gefahren auszublenden, ”psychische Taubheit” bewirken (vgl. Cermak, 1990, S. 72 ff.). EKAs kompensieren diese Furcht, Situationen hilflos ausgeliefert zu sein, häufig mit dem Versuch, durch eigene Aktivitäten Unvorhersehbares zu eliminieren. Die Schwierigkeit besteht darin, daß sie dieses Prinzip in der Kindheit anhand einer Variable erlernten, die nicht kontrollierbar war: Alkoholismus eines Elternteils sowie sämtliche Konsequenzen für die Familie sind vom Kind nicht bewältigbar. Da diese Einsicht aber außer Hoffnungslosigkeit keinen Ausweg zuläßt, erhöhen sich die Anstrengungen des Kindes. Als ‘Erfolge’ erscheinende Situationen (z.B. die Kopplung einer guten Schulnote mit kurzfristiger Abstinenz der alkoholkranken Person) werden als persönliche Einflußnahme interpretiert. Dadurch kann eine “Kontrollillusion” entstehen, die sich schließlich zu dem bereits beschriebenen Persönlichkeitsprofil der Co-Abhängigkeit verdichtet. Im Erwachsenenalter manifestiert sich die Kontrollillusion an einer anscheinend “internen Kontrollüberzeugung”, die auf sämtliche Lebensbereiche übertragen wird.. So erscheinen EKAs häufig als durchsetzungsfähig, obwohl darunter weiterhin die “externale Kontrollüberzeugung” wirkt.
Der in rot markierte Satz dient als Grundlage für das, was ich in einem Vortrag von Professor Dr. Lothar Schmidt anlässlich eines AA-Gruppenjubiläums in Wittenberge gehört habe. Er leitete aus ähnlich gemachten Erfahrungen vier Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder aus Suchtbelasteten Familien ab. Da die Konsequenzen, die sich aus dem Alkoholismus für die Familie ergeben für nicht bewältigbar sind und nur Hoffnungslosigkeit als Ausweg zulassen, erhöhen Kinder ihre speziellen Anstrengungen.
Hier die vier Ausprägungen von Kindesentwicklungen laut Prof. Dr. Lothar Schmidt, so wie ich es verstanden habe.
1. Der „Sonnenschein“
Dieses Kind versucht mit seiner tatsächlichen und/oder vorgetäuschten Fröhlichkeit den Krankheitsverlauf des konsumierenden Elternteils günstig zu beeinflussen. Es lächelt alle Probleme weg und fühlt sich, wie alle „Entwicklungstypen“, in ihrem Tun bestätigt, wenn dies eher zufällig bei dem Erkrankten eine positive Reaktion hervorruft. Dieses Verhalten dient nicht nur dem Erkranktem sondern dem ganzen Gefüge.
2. Die/der „Rabaukin/Rabauke oder Rebell/in“
Es versucht durch sein „Querschlagen“ die Aufmerksamkeit des Konsumierenden zu gewinnen und dadurch etwas zu bewirken. Das Fatale ist, dass es oft das genaue Gegenteil von dem erreicht, was es bewirken möchte. Mit diesem Verhalten stößt es nicht nur bei dem Konsumierenden an, sondern auch bei vielen in seiner Umgebung.
3. Die/der „Streber/in“
Es ist das Abbild von dem, in dem roten Satz Geschildertem. Es versucht durch gute Leistungen in der Schule, Freizeit oder Haushalt alles zusammen zu halten was auseinander zu driften droht. Bei nicht Erfolg, was leider sehr oft erlebt wird, verstärkt es seine Anstrengungen noch mehr und hält sich immer noch nicht für gut genug.
4. Die/der „Liebe“
Dieses Kind ist nicht oder nur kaum wahrzunehmen. Es hält sich im Hintergrund und fällt nicht weiter auf. Es ist das absolut pflegeleichte Kind. Es passt sich allen Situationen an und versucht damit Einfluss zu nehmen.
Soweit Prof. Dr. Schmidt.
Zunehmend werden bei der Mutter und den Kindern Scham- und Schuldgefühle aktiviert. Die Kinder achten zum Beispiel darauf, dass sie keine Klassenkameraden zu „ungünstigen Zeit“ mit nach Hause nehmen. Sie gehen dann lieber mit zu dem Klassenkameraden nach Hause. Auch herrscht oft die Befürchtung vor, selbst ausgegrenzt zu werden. Angehörige leiden sehr oft stumm.
„Oft bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“
Vielleicht schwingt dieses Bibelwort bei den Angehörigen in Ihren Reaktionen mit. Vielleicht ist es auch das Pflichtbewusstsein alles am Laufen zu halten oder doch die übermächtige Scham versagt zu haben, dass die Angehörigen oft lange nicht erwachsen handeln lassen.
Sie dürfen erst erkennen und dann ihre Fäden durchschneiden, um bei dem Bild des Mobilee’s zu bleiben. Sie schneiden sich von allen Machteinflüssen, die von diesem Gebilde aus Gefühlen, Scham und Schuld ausgehen ab. Sie bringen damit das Mobilee ins Wanken, ja sie lösen gar ein Erdbeben aus. Das Gefüge wird regelrecht zerrissen. Dies hat sehr oft Wirkung auf den Konsumierenden. Völlig verunsichert versucht er die neue Situation einzuordnen. In diesem Stadium ist die Chance gegeben, dass auch er zur Umkehr kommt. Sein bisheriges Handeln in Frage stellt und weitreichende Schritte einleitet und vollzieht. Vorsichtig können nun unter den Beteiligten neue Banden geknüpft werden. Ein neues Familienmobilee kann entstehen.
Ich wünsche Allen, die noch in einem krankmachenden Mobilee gebunden sind, Mut die nötigen Überlegungen zuzulassen um daraus richtige Schritte abzuleiten und umzusetzen. Seit achtsam und geht sorgsam mit Euch um.
Gerald